Die Unwiderstehlichkeit eines Winzlings
Bis hinein in die untere Bildhälfte beherrscht eine dunkle Betonmasse die
Fotografie von Christoph Schreiber. Teil dieser Architektur ist eine Öffnung,
die den Blick auf das Grau-in-Grau der Wolken frei gibt. Im unteren Bildteil
setzt sich der Himmel fort und wird nur teilweise vom dritten Element – der
Spitze eines Nadelbaums – verdeckt. Dieser Wipfel streckt sich nahe der
Mittelachse bis in die Peripherie der elliptischen Öffnung.
Wie die meisten der fotografischen Arbeiten von Christoph Schreiber zeich-
net sich auch dieses Werk durch die Reduktion auf wenige, zu einem Motiv
zusammengeführte Bildelemente aus. Auch ist es nicht selten, dass die
Motive für Verblüffung sorgen. Wobei es nicht unbekannte Dinge, sondern
unglaubwürdige Umstände sind, die diese Wirkung hervorrufen. So scheint
im abgebildeten Werk die erfahrungsgemäss schwere Betonmasse unwirklich
wie eine Science-Fiction-Erscheinung zu schweben. Findet sich im Bildaus-
schnitt doch kein die Architektur auf den Boden der Tatsachen führender
Anhaltspunkt.
Zugleich aber wird der Betrachter eingeladen, sich einem Dilemma zu stellen.
Der von Dunkelheit und Geometrie gerahmte und sich an eben dieser Stelle
aufhellende Himmel zieht den Blick magisch an und lädt ihn zum Ruhen ein.
Vermögen die Wolken den Blick zu fesseln, so gehört die Aufmerksamkeit
doch ganz dem Nadelbaum. Wie aber gelingt es dem kleinen „David“, sich
Aufmerksamkeit zu verschaffen? Der benadelte Winzling räkelt sich in alle
Richtungen und lässt den Blick ruhelos von Ast zu Ast, Zweig zu Zweig und
von Nadel zu Nadel wandern. Es ist seine zappelig-ungezwungene Indivi-
dualität, die die Mächtigkeit der strengen Geometrie und die der elliptisch
eingesperrten Wolken-Ruhe vor den Kopf stösst.
Zur Entstehung der Werke von Christoph Schreiber gehört neben der foto-
grafischen Aufnahme auch die Bildbearbeitung, die nicht nur die Festlegung
des Bildausschnitts umfasst. So entspricht das, was der Betrachter mit diesem
Werk sieht nicht dem, was der Fotograf aufnahm: In der Realität sind Stützen
Teil der Architektur. Diese und einige Häuser im Hintergrund wurden zugunsten
des verblüffenden Schwebe-Effekts und einer Bildkomposition entfernt, die die
Konzentration auf das Dilemma von Blickführung und Aufmerksamkeit ermöglicht.
Das in der Realität Vorgefundene wird also nur sanft korrigiert. Christoph Schreiber
erfindet keine neuen Bildwelten, sondern macht auf das Wirkungs-Potential vor-
handener Dinge aufmerksam und unterscheidet sich gerade darin von vielen
seiner Künstlerkollegen.
Mandy Ranneberg, Schaffhauser Nachrichten, 2005